INTERVIEW

«Lampedusa ist wahrscheinlich der am meisten von Migration und Flucht  betroffene Ort der Welt. ...

... Ich wollte wissen, was das in einer Gemeinschaft verschiebt.»
Jakob Brossmann über Lampedusa in Winter, das eindringliche Bild einer winzigen Insel, die durch ihre Lage am äußersten Rand Europas gezwungen ist, sich mit Fragen zu konfrontieren, die das restliche Europa zu umgehen versucht. Weltpremiere: Locarno – Semaine de la Critique.
 
 
 
Lampedusa ist in den letzten Jahren zur Metapher für Flüchtlingstragödien im Mittelmeer und das Problem Europas im Umgang mit den Flüchtlingen geworden. Niemand fragt nach der Identität, nach dem Leben auf einer 5000-Seelen-Insel. Lag der Anstoß zu diesem Projekt, nach der Identität dieses Ortes zu suchen?
 
JAKOB BROSSMANN:  Das Thema Flucht beschäftigt mich schon sehr lange. Zuvor arbeitete ich an einem Drehbuch über die Abschiebung jüdischer Flüchtlinge über die Schweizer Grenze zurück ins sogenannte Dritte Reich. Damals brach gerade der Arabische Frühling los und Lampedusa war mit den ewig gleichen Bildern in den Medien omnipräsent. Ich beschäftigte mich mit der Frage der „aufnehmenden“ Gesellschaft und des Umgangs mit den Flüchtlingen am Ankunftsort. Das Thema hat mich nicht mehr losgelassen.
 
 
Mit welcher Fragestellung haben Sie Lampedusa zum ersten Mal betreten?
 
JAKOB BROSSMANN:  Meine Intention war es, abseits der gängigen Medienproduktion die Bevölkerung und den strukturellen Kontext zu erfassen und zu schauen, wo die Begegnungen zwischen Flüchtlingen und BewohnerInnen statt finden. Wie sehen sie aus? Lampedusa ist wahrscheinlich der am meisten von Migration und Flucht  betroffene Ort der Welt. Ich wollte wissen, was das in einer Gemeinschaft verschiebt. Dazu kam dann noch der Faktor des Winters, wo eine Insel in dem Zustand der „Insularità“ auf sich zurückgeworfen ist. Die Touristen und die Medien verschwinden, weniger  Flüchtlinge kommen an und existentielle Fragen und Probleme werden sichtbar. Sehr schnell stellte sich heraus, dass nicht die Flüchtlinge das Problem der Insel sind. Man entdeckt auf Lampedusa, dass die dortige Situation nicht, wie man als europäischer Medienkonsument meinen möchte, ein Nährboden für Rassismus und Xenophobie ist, sondern genau das Gegenteil. Es findet hier eine Form von Solidarität statt – sie kommt nicht immer zum Zug, aber sie ist grundsätzlich vorhanden. Denn die Inselbewohner sehen sich als Opfer derselben zynischen Politik wie diese Flüchtlinge. Die Lampedusani erleben aus nächster Nähe, wie eine kleine Gesetzesänderung plötzlich unermessliches Leid über die Welt bringt und wie scheinbar „natürliche Phänomene“ auf politischer Ebene „gemacht“ sind.
Daher nimmt der Film nicht nur eine Perspektive auf Lampedusa ein, sondern zeigt vor allem eine lampedusanische Sicht der Dinge.
 
 
Was wäre dafür ein Beispiel?
 
JAKOB BROSSMANN:  Am Beginn meiner Arbeit habe ich das Thema Bootsflucht nicht grundlegend hinterfragt, sondern als eine Art naturgegebenes Phänomen betrachtet. Meine Erlebnisse auf Lampedusa und die vielen Gespräche mit den Bewohnern dort haben mir die Hintergründe klar gemacht. Das Problem der Bootsflucht könnte innerhalb kürzester Zeit gelöst sein. Man müsste das Botschafts-Asyl wieder aufbauen und die sicheren Reiserouten für Leute, die einen Asylanspruch oder zumindest das Recht auf einen Antrag haben, wieder autorisieren. Die risikoreichen Überfahrten sind ein direktes Resultat der Zäune von Ceuta und Melilla, und ähnlicher Anlagen die man überall errichtet. Sie sind unmittelbare Auswirkungen von Gesetzestexten, die den Schaden auf eine Fluggesellschaft abwälzen, wenn diese jemanden ohne Einreisedokumente befördert. Die Lampedusani haben selbst erlebt, wie ihre Insel instrumentalisiert wurde, um Bilder einer „Invasion“ zu erzeugen. Das entspricht aber gar nicht dem, was sie in der Begegnung mit den Flüchtlingen wahrnehmen.
 
 
Die Insel per se ist ein Ort der Isolation, der eingeschworenen Gemeinschaft, aber auch ein Rettungsanker. Ist Lampedusa auch ein Essay über das Wesen der Insel?
 
JAKOB BROSSMANN:  Auf einer gewissen Ebene sicherlich. Der Film enthält abseits der Beschreibung konkreter Zustände und Fragestellungen auch eine essayistische Komponente. Ich bin auch immer wieder zum Gedanken verleitet, Lampedusa könnte ein Symbol für „Europa in der Welt“ sein. Eine Insel, die vor Fragen gestellt wird, mit denen man nicht wirklich konfrontiert werden möchte, aber denen man sich doch stellen muss. Was mich an Lampedusa berührt hat, ist der Umstand, dass es der winzigen Gemeinschaft gelingt, nicht die eigenen Probleme gegen die der anderen auszuspielen. Es wird dort der Versuch notwendig, mehrere Problemfelder gleichzeitig zu denken – und das gleichwertig und meist würdevoll.
 
 
Es scheint auch an ganz außergewöhnlichen Persönlichkeiten zu liegen, die aktiv sind, allen voran die Bürgermeisterin Giusi Nicolini.
 
JAKOB BROSSMANN:  Giusi Nicolini ist seit Mai 2012 Bürgermeisterin. Ich kannte sie schon aus der Zeit vor der Wahl und habe sie dann in ihrer ersten großen Fährkrise durch den ersten Winter als Bürgermeisterin begleitet. Sie ist eine außergewöhnliche Person. Sie hat den Film gewiss sehr stark mitgeprägt.  Bei unserem ersten Treffen, dachte ich gerade darüber nach, Lampedusa abseits von Flucht und Flüchtlingsproblematik zu beschreiben. Die Flucht einmal bewusst auszuklammern. Ihre Ansage dazu war klipp und klar: „Das geht nicht. Du kannst nicht über Lampedusa sprechen, ohne über Flucht zu sprechen. Sie ist Teil unserer Identität und Teil der Fragestellung.“ Ein rein auf die Bevölkerung Lampedusas fokussiertes Projekt war für sie unvorstellbar. Und das, obwohl Lampedusa die Aufmerksamkeit für seine eigenen Probleme ja dringend braucht! Einer der großen Aspekte, der Lampedusa für uns so relevant macht, ist  die Erfahrung der eigenen Hilf- und Machtlosigkeit. Einer der Kernmomente des Films ist für mich, als sich die Bürgermeisterin mit ausgebreiteten Armen vor 25 Flüchtlinge stellt und sich für die in Europa herrschenden Gesetze entschuldigt, an denen sie gar nichts ändern kann. Das ist ein wesentliches Merkmal lampedusanischer Realität. Das Ausgeliefertsein ist ein Gefühl, das jeder Mensch nachvollziehen kann – oder muss.
 
Dokumentarfilm ist in erster Linie eine Frage des Aufbaus von Vertrauen zu den Menschen. War das in einer Inselgemeinschaft, die in der Regel als geschlossener gilt, schwieriger? So wie die Kamera in diesem Film agiert, zeugt sie jedenfalls von einem starken Vertrauensverhältnis.
 
JAKOB BROSSMANN:  Kamerateams auf Lampedusa sind ja ungezählt, besonders in der Phase nach den Tragödien. Fragen und Zugänge wiederholen sich ständig. Bei uns fiel auf, dass wir im Winter kamen und blieben, dass ich keine oder wenn, dann nicht die üblichen Fragen stellte. Ich hatte eine phantastische Dolmetscherin, ich alleine hätte die Sprachbarriere nie überwinden können. Das Sich-Einlassen auf die Themen und die Menschen wurde wahrgenommen und geschätzt.
 
 
Sie haben punktuell Lebenswelten der Insel – Fußballverein, Radio, Fischer – in den Fokus geholt, um von der Insel zu erzählen.
 
JAKOB BROSSMANN:  Dass Giusi Nicolini eine Protagonistin im Film sein würde, war mir schon klar, ehe sie zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Sie hat ja zuvor einen Umweltverband geleitet. Ich habe versucht, mit diesen Eckpfeilern in den mir zur Verfügung stehenden 90 Minuten die Inselrealität abzustecken. Das Fußballtraining ist sehr wesentlich, da es bei Fußball immer auch um einen Traum von einem anderen, großen, bedeutungsvollen Leben geht. Das steht in Relation zu den Geschichten, mit denen man die Insel sonst verbindet. Dass es während unserer Anwesenheit zu so deutlichen Konflikten auf der Insel gekommen ist und wir diese auch begleiten durften, hat in der Struktur des Films sehr viel verändert. Das lässt sich nicht planen, dafür kann ich nur dankbar sein. Der Streik bewirkte, dass es dann in der Fußball-Geschichte vielmehr darum ging, wie wir miteinander umgehen: innerhalb der Mannschaft, mit unseren Gegnern und mit unseren eigenen Niederlagen. Die Fußballmannschaft ist ein kleines Erzähl-Element, das immer wieder auftaucht, und das es ermöglicht zu zeigen, dass es ein eigenes Leben abseits der Tragödien, Katastrophen und der existentiellen Not gibt. Für mich hat es etwas Tröstliches. Eines der Dinge, die einem Lampedusa geben kann, ist Zuversicht. Die Botschaft für uns ist: Das Leben endet nicht, weil 70.000 Asylwerber nach Österreich kommen. Ich frage mich immer wieder, wie diese Annahme überhaupt aufkommen kann. Ein kleiner Ort wie Lampedusa, der wie kein anderer von Migration betroffen ist, hat ein ganz normales Leben und auch massive Probleme. Die wenigsten davon haben mit den Flüchtlingen zu tun. Diese Tatsache könnte den europäischen Umgang mit den Flüchtlingen, die zu uns kommen und um eine Chance bitten, doch zumindest ein wenig entspannen.
 
 
Der Film zeigt auch Menschen, die aus einer moralischen Verpflichtung heraus aktiv werden und auch die Notwendigkeit der Trauer- und Erinnerungsarbeit gegenüber den verunglückten Schiffbrüchigen sehen.
 
JAKOB BROSSMANN:  Besonders im Winter, wenn die Insel auf sich selbst zurückgeworfen ist, wenn der Druck des sommerlichen Geldverdienens weg ist, wenn die Bewältigung der akuten Krise auf der Agenda nicht ganz oben steht, dann tritt die Frage in den Vordergrund, wie man mit diesen immer wiederkehrenden Tragödien umgeht, was dieses Leben als Zeugen mit den Bewohnern macht. Es gibt Menschen, die das wegschieben, aber es geschieht auch sehr viel Aufarbeitung, aus der heraus wiederum politische Positionen entstehen, die weit über die konkrete Frage Lampedusa hinausweisen. Paola, eine ehemalige Anwältin und Protagonistin im Film, ist in ihrem Engagement so komplex, dass es im Film nicht einmal ansatzweise Platz hat. Sie versucht sich in einem Journalisteninterview, das wir im Film beobachten, von der  Tragödie selbst abzugrenzen. Etwas später im Film sieht man, wie sie wieder zurückgeht und sich wieder auf die gegebenen tragischen Umstände einlässt, und die Erinnerung weitergibt. Nicht aus Mitleid, sondern aus dem Motiv heraus, dass wir uns das als Menschen selbst schulden.
 
 
Die Kleinheit der Insel macht auch das Wegschauen schwer.
 
JAKOB BROSSMANN:  Lampedusa ist ein wunderschöner Ort, ein phantastisches Urlaubsziel, es sind dort Menschen, die zu leben verstehen, selbst wenn es ihnen mal an die existenzielle Grundlage geht – und dies mit einem Bewusstsein für Umstände, die sich eigentlich nirgendwo leugnen lassen. Die Menschen dort sind mit einem immer wiederkehrenden Verweis auf das Elend in der Welt konfrontiert. Die Lampedusani lernen in regelmäßigen Abständen Menschen aus der ganzen Welt kennen, hören ihre Geschichten und verlieren diese Freundschaften wieder, weil sie nicht aufrechtzuerhalten sind. Und sie erleben immer wieder, wie sich das Glück des Geretteten oder Überlebenden in blanke Verzweiflung über das  europäische Asylwesen verwandelt.
 
 
Der Film gibt auch der Institution Küstenwache eine menschliche Dimension und fragt nach, was diese Einsätze mit den Menschen machen und von ihnen fordert.
 
JAKOB BROSSMANN:  Diese Einsatzkräfte sind auf dieser Insel ein Faktum wie die ankommenden Flüchtlinge, die Fischer, die Kinder. Sie verbringen dort eine Mission von ein bis zwei Monaten, wenn die Situation es einfordert auch länger. Dem einen menschlichen Raum zu geben, war mir besonders wichtig. Diese Männer haben mich beeindruckt – mit ihrer Professionalität und mit ihrem Mut – denn die Einsätze, die im Film zu sehen sind, sind bei Weitem die harmlosesten. Die Küstenwache ist eine Einheit, die in den letzten zwanzig Jahren eine kaum vorstellbare Zahl von Menschen gerettet hat und außer von den Geretteten und den Lampedusani, die sie sehr schätzen, nie ein Wort des Dankes erntet. Im Gegenteil – aus dem übrigen Europa kommen Vorwürfe, die auf einer individuellen Ebene eine Schuldfrage verhandeln, die meiner Meinung nach in den meisten Fällen nur auf einer strukturellen und politischen Ebene beantwortet werden kann. Aber das enthebt uns nicht der Verantwortung, auf die Verbrechen der Außengrenze hinzublicken, für die ich mich als Europäer zutiefst schäme.
 
 
Sie sind bei einigen Einsätzen mit der Kamera dabei gewesen und haben wohl selbst körperlich eine weitere Dimension dieser Arbeit erfahren.
 
JAKOB BROSSMANN:  Ich persönlich werde leider seekrank. Das fand ich erst heraus, als der Seegang vor Lampedusa das obere Ende der Skala erreicht hat. Das ist ein Zustand, unter dem es sich sehr schwer drehen lässt, insbesondere weil es den emotionalen und  den intellektuellen Zustand schwerstens beeinträchtigt. Es gibt aber Medikamente, die immerhin das Stehen ermöglichen.  Es ist eine gesteigerte Erfahrung des existenziellen Alleinseins, wenn man als Binneneuropäer zum ersten Mal in seinem Leben von nichts als Wasser umgeben ist. Wir halten das Mittelmeer für einen netten Badeteich. Wenn man aber einmal stundenlang auf einem italienischen Schnellboot mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs ist und nur Wasser sieht, dann flößt einem das enormen Respekt ein. Was es heißt, auf einem kaum seetauglichen Holzboot mit 250 bis 350 Menschen an Bord, diese Strecke zu bewältigen, ist unvorstellbar. Auch die Lampedusani betonen immer wieder, wie evident die Verzweiflung sein muss, dass man so ein Boot besteigt. Meine Erfahrung reicht niemals aus, um so etwas nur annähernd nachvollziehen zu können. Schon die lampedusanische Perspektive auf dieses Meer als Gefahr, als Nahrungsquelle und als existenzielles Moment, hat uns alle, das ganze Team, sehr beschäftigt.
 
 
Von der ersten Schwarzblende zu Beginn, die nur akustisch einen Seenotruf verfolgt, zieht sich durch den ganzen Film sehr dezent eine Kritik an den Medien, wie Bericht erstattet wird, was alles im Dunkeln bleibt – von den unzähligen nie georteten Opfern bis zu einer Insel, die alles andere als fremdenfeindlich ist.
 
JAKOB BROSSMANN:  Es gibt es natürlich eine wichtige Grenze des Darstellbaren, des Fassbaren, der Pietät. Wie man damit umgeht, was man bewusst ausspart, wie viel „Effekt“ man in Kauf nimmt, um sein Publikum zu erreichen – das hat uns immer wieder sehr beschäftigt. Die Medienberichte sind vor allem geprägt von der dauernden Fokussierung auf die Todesopfer oder der Stilisierung einer Invasion. Und beides entbehrt meist jeden Kontext. Aber ich nehme mich von der Kritik nicht ganz aus. Es gibt diesen bereits angesprochenen Moment im Film, wo wir ein Interview mit einer der Protagonistinnen beobachten, und sie sagt zu dem Journalisten, „Ihr kommt zu uns und macht die Zeugen zu euren Protagonisten. Habt ihr nichts Besseres zu tun angesichts der Fragen dieser Welt, als die Zeugen zu interviewen?“ Ich hoffe, dass wir mit dem Film und der Haltung, mit der wir nach Lampedusa gegangen sind, in der Lage sind, etwas zu erzählen, was über das Leben der Zeugen allein hinausreicht. Zur Rolle der Medien insgesamt muss man sagen, dass sie mit ihren begrenzten Mitteln, ihren Zeitläufen , mit ihrer Ökonomie der Aufmerksamkeit, ebenso überfordert sind wie wir. Aus lampedusanischer Perspektive werden diese Mechanismen oft durchschaubar. Der Film soll vor allem eine Einladung sein, den Fokus zu erweitern, sich Zeit zu lassen und sich auf Fragen einzulassen, die sich nicht in Zweizeilern formulieren oder beantworten lassen. Die Mehrheit der Medien- und Filmproduktionen haben den Luxus, den wir uns als Team auf Kosten unserer Selbstausbeutung geleistet haben, nicht.
 
 
Lange Präsenz am Drehort bedeutet gewiss auch viel Material...
 
JAKOB BROSSMANN:  Ich gestehe, so lang war das am Anfang gar nicht geplant – und ich weiß gar nicht, wie viele Stunden Material am Ende da waren. Seit dem letzten Drehblock haben Nela Märki und ich über ein Jahr sehr intensiv geschnitten. Vor allem die Frage, wie viele Aspekte ein Film „verträgt“, wie viele Geschichten und Probleme man als Zuseherin bereit ist aufzunehmen, war nicht leicht zu erarbeiten. Eine Situation, in der mehrere Probleme miteinander in „Konkurrenz“ stehen, ist dramaturgisch schwierig. Aber zugleich wesentlich für uns, um Lampedusa zu verstehen.  Es fand aber auch zwischen den Drehblöcken eine intensive Aufarbeitung des vorhandenen Materials statt, um immer wieder zu analysieren, wo wir standen. Wenn man sich einem Thema in einer beobachtenden Haltung annähert, ist das Risiko des Scheiterns unkalkulierbar und omnipräsent. Man dreht viele Dinge aus der Verzweiflung heraus, dass man der Sache nicht gerecht werden könnte. Dass die Flüchtlinge aus dem Lager ausbrechen, in dem man nicht drehen darf (dass wir es leer drehen durften, war Ergebnis monatelange Arbeit), dass sie plötzlich mit einer Forderung in Erscheinung treten und vom Objekt plötzlich zum politischen Subjekt auf der Insel werden – das war nicht planbar. Bis so etwas passiert, sitzt man ein wenig am Trockenen und fragt sich, wie soll der Film je der Dimension gerecht werden, die wir uns da auferlegt haben. Und aus dieser durchaus auch verzweifelten Position produziert man Material, das im Schnitt überhaupt nicht in Frage kommt. Man kann nur bereit sein. Das bedeutete Beziehungsarbeit mit der Bevölkerung, der Polizei, Kontakte zu den Flüchtlingen... das Feld kennen, damit man dann, wenn es passiert, das Vertrauen genießt. Die Produktion war aber auch abseits davon von Rückschlägen und schwersten Hindernissen gepflastert. Die Fähre ist ja nicht nur für Lampedusa abgebrannt, sie ist auch für uns abgebrannt. Wir waren noch auf Sizilien, als das Boot, auf das wir unbedingt wollten, abgebrannt ist. Für eine winzige Produktion mit einer in Relation zum Vorhaben kleinen Förderung war das ein Desaster. Wir sind dann geflogen, haben das Equipment zunächst zum Großteil in Sizilien gelassen, weil das Fluggepäck so limitiert war, nach Wochen kam es dann nach. Dazu kamen Equipment-Schäden, krankheitsbedingte Ausfälle von Teammitgliedern.  Mein Team meinte scherzhaft – „Das Making-of, das wir nicht drehen, wäre wahrscheinlich der spannendere Film.“ Auch wir haben Lampedusa als Grenzerfahrung erlebt.
 
 
Lampedusa im Winter transportiert eine klare Gegenstimme zum Diskurs, der im medialen Mainstream herrscht. Was wünschen Sie sich nun, wo er fertiggestellt ist, dass er an Botschaft vermittelt?
 
JAKOB BROSSMANN:  Wenn man dieses Material gesammelt hat, dann erwacht so etwas wie ein Gefühl der Verantwortung, dass man es auch zugänglich machen muss. Dieses Anliegen hat die Erzählweise mitgeprägt. In der Erfahrung von Lampedusa kommt man zu dem Bewusstsein, dass man einen Film  nicht nur für den eingeschworenen Kreis an Dokumentarfilm-Connaisseuren machen will, sondern dass man trotz der eigenen filmischen Haltung viele Menschen erreichen will – und zugleich weiß man, dass das nur schwer gelingen kann. In diesem durch die lange Beobachtung entstandenen Material steckt eine Botschaft und eine politische Dimension, für die ich mir ein großes Publikum wünsche. Auf Lampedusa sieht man sehr deutlich, dass die Gefahr nicht in den ankommenden Flüchtlingen liegt, sondern im Umgang Europas mit diesen Menschen – wie man sie zum Faktor, zur Nummer macht, sie in ein entmenschlichtes System einschleust, jede Würde nimmt und jenen, die unterm Strich das Glück haben, einen Asylstatus zu erlangen, kaum Integrationschancen einräumt. Und gleichzeitig steht Lampedusa, wie ich es sehe, auch für unseren Umgang mit den Marginalisierten an den Rändern und Grenzen unserer Gesellschaft. Der gesamt-gesellschaftliche Zusammenhalt fehlt, die Peripherien werden sich selbst überlassen. Das sind die eigentlichen Gefahren. Nicht die Flüchtlinge.
 
 
Interview: Karin Schiefer
Juli 2015
«Auf Lampedusa sieht man sehr deutlich, dass die Gefahr nicht in den ankommenden Flüchtlingen liegt, sondern im Umgang Europas mit diesen Menschen